Nicht vergessen: Stolpersteine & Ukraine

Wenn uns die Gedächtnisforschung eins lehrt, dann, dass unser Gedächtnis ziemlich schlecht ist. Wobei “schlecht” etwas unscharf formuliert ist: Es ist ungenau zugunsten der Effektivität. Diese Ungenauigkeit ergibt sich durch die verschiedenen Arten und Weisen, auf die Erlebnisse als Erinnerungen abgespeichert werden. Dabei werden Informationen, die für uns eine Bedeutung haben und sich immer wiederholen besser abgespeichert als die, die für uns bedeutungslos sind und nur einmalig angeboten werden.
Ist eine Information im Gedächtnis, heißt das aber lange noch nicht, dass wir jeden Tag bewusst daran denken. Es wäre für die meisten Menschen wahrscheinlich relativ unpraktisch, wenn sich ihnen minütlich der Satz des Pythagoras oder die Hauptstadt von Eswatini (es ist Mbabane) aufdrängen würde. Wenn eine bestimmte Information lange genug nicht mehr benötigt wird oder mehr und mehr an Bedeutung verliert, verschwindet sie langsam aus dem Bewusstsein. Ich habe zwei Freunde (sie kennen sich gegenseitig nicht), die regelmäßig – wenn sie an Stolpersteinen vorbeikommen – stehenbleiben und innehalten, um an das zu denken, wofür sie stehen. Auf meiner Straße findet sich der Stein zu Emil Mahnert, der durch einen Polizisten mit einem Stoß aus dem zweiten Stock des damaligen Präsidiums ermordet wurde.Das ist eine traurige Begebenheit und es ist nicht angenehm, daran zu denken. Ich kann mich nur an die Dinge erinnern, die ich über die Geschichte Deutschlands gelerent habe und mir bewusst machen, was damals warum passiert ist. Und mir überlegen, wie ich dazu beitragen kann, dass so etwas nicht wieder passiert. Indem ich das hin und wieder tue, rufe ich diese Information hoffentlich oft genug auf und gebe ihr genug Bedeutung, um nie zu vergessen, was einmal gewesen ist.
Ein deutlich aktuelleres Beispiel kommt im weitesten Sinne aus der Politik. Ich meine hier nicht die PolitikerInnen, die bei Skandalen auf den Faktor Zeit und darauf setzen, dass die Wähler schon vergessen werden, was sie sich alles geleistet haben (auch wenn man darüber nochmal einen separaten Post verfassen könnte). Ich beziehe mich hier auf den Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt. Die russische Armee hat sich schon zahlreicher Kriegsverbrechen schuldig gemacht. Ganz vorne mit dabei sind der Einsatz verbotener Waffen und das Abschlachten wehrloser Zivilisten. Zu Beginn des Krieges habe ich (auch von Bekannten) noch Meinungen gelesen, die Russland verteidigten und ziemlich naiv Propaganda übernommen haben (z. B. “Putin hatte keine andere Wahl bei der Bedrohung durch die NATO”). Putin scheint neben Desinformation auch darauf zu setzen, dass der Krieg schon uninteressant genug werden wird, wenn er nur lange genug dauert. Das ist keine unbegründete Annahme wenn man sich die Entwicklung des öffentlichen Interesses zu anderen Konflikten in der Welt anguckt. Was war nochmal die Bedeutung von Bergkarabach? Den Gefallen wollen wir ihm aber nicht tun, oder? Niemand, der nicht massiv masochistisch veranlagt ist, will sich von morgens bis abends nur mit Krieg und Leid beschäftigen. Es täte uns allen aber gut, uns regelmäßig bewusst an die Informationen zu erinnern, von denen wir überzeugt sind, dass sie nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Das Völkerrecht betrifft auch uns. Sława Ukrajini!

Bundestagswahl 2021

Was wäre eine große Wahl nur ohne einen mäßig mit Quellen belegten, ironisch-reißerischen und in der Qualität der Thesen stark schwankenden Blogpost von Stoques Bloque? Richtig, sie wäre ungefähr so bedeutsam wie die Besorgtheit der EU. Deswegen – kurz vor dem Start des Wahl-O-Mat – hier ein paar meiner Gedanken und Beobachtungen aus den letzten Jahren mit einer Einordnung zu den größeren zur Wahl stehenden Parteien inklusive ein bisschen Idealismus drum herum.

Bei der CDU fällt es mir schwer, im Angesicht der angehäuften Skandale, überhaupt noch einen lohärenten Text zu verfassen und nicht schreiend wegzurennen. Zunächst bekommt man bei der CDU Laschet: Maskendeal mit der Modefirma van Laack, bei der sein Sohn als Model arbeitet zu vollkommen lächerlichen Preisen, die nach öffentlichem Aufschrei auf einmal stark reduziert werden können. Kooperation und Lobbyarbeit für RWE, Räumung des Hambacher Forsts mit rechtlich fragwürdigen Mitteln & Begründungen. Auflösung der für Umweltkriminalität verantwortlichen Staabsstelle, die gerade die Betriebe mehrerer Parteikollegen untersucht. Stopp von Windkraftausbau an der Küste. Stattdessen Bau eines Kohlekraftwerks, der mittlerweile für rechtswidrig erklärt wurde. Löschenlassen eines kritischen WDR Beitrags. Sehr akkurate Hochwasserwarnung tagelang ignorieren und nach Hochwasser so tun, als hätte man das nicht wissen können. Uniklausuren verlieren und einfach Noten erfinden. Ein Buch durch Mitarbeiter seines Ministeriums (finanziert durch Steuern) schreiben lassen, die Gewinne komplett behalten, als das Bekannt wird die Gewinne spenden, die Spenden dann dennoch bei der Steuererklärung angeben. Ein Muster aus immer wiederkehrenden Lügen, opportunistischen Richtungswechseln, Hörigkeit gegenüber großen Unternehmen…eine absolut menschenfeindliche Politik.
Dann bekommt, wer der CDU seine Stimme gibt, neben Laschet auch noch Liminski: ultrakonservativ, gegen Abtreibung, gegen Homosexualität, gegen Säkuralisierung, gegen Gleichberechtigung von Mann und Frau. Man bekommt Merz, der eigentlich pausenlos dadurch auffällt, dass er Reiche schützen und noch reicher machen will. Sozialleistungen wirken für ihn wie Abfall. Der ehemalige Blackrock Funktionär (zwei Dokus über Backrock hier & hier) strebt in die Politik – als wäre der Vermögensverwalter nicht schon einflussreich genug. Bei Wahl der CDU bekäme man vermutlich auch Reul als Innenminister, der immer so wirkt, als wolle er einen Polizeistaat errichten. Dank ihm können BürgerInnen ohne Verdacht kontrolliert und ohne Straftat eingesperrt werden (der Richterbund wirft ihm hierfür einen Angriff auf die Justiz vor). Er spricht sich wiederholt für mehr Überwachungsmaßnahmen aus, obwohl da erwiesenermaßen Kosten & Nutzen in keinem Verhältnis zueinander stehen. Man bekommt Korruption in Form von Amthor und rechtes Gedankengut von Maaßen.
Abgesehen von diesen zahlreichen schwierigen Personalien, die auch schon nur eine komprimierte Auswahl darstellen, muss man auch auf das Erbe der Ära Merkel und die Politik der Partei blicken: In 16 Jahren Kanzlerschaft hätte sich in Deutschland vieles zum Guten wenden können. Stattdessen geht die Schere aus arm und reich immer weiter auseinander. Ginge es nach der CDU, würde das auch so weitergehen. Das hier sind die Steuerpläne:Steuerkonzepte – Quelle: SZ
Fun fact: die reichsten 10% der Menschen sind für 50% des CO2-Ausstoßes verantwortlich. In 16 Jahren ist die Infrastruktur in Deutschland nur sehr schleppend gewachsen. Großes Dank dafür an den milliardenverschwendenden Andreas Scheuer. Die Digitalinfrastruktur ist schlechter als in so manchen deutlich ärmeren Ländern. Ein großer Niedriglohnsektor bewirkt, dass manche Menschen trotz Arbeit kaum von ihrem Lohn leben können. Große Unternehmen, besonders aus der Autoindustrie, erhalten Milliardengeschenke, während der Mittelstand immer mehr belastet wird. Die Energiewende wurde ebenfalls verschlafen. Kurz vor Fukushima wollte die CDU die Atomkraft ja noch ewig am Leben erhalten. Danach dann die Kehrtwende, auch wenn sich an den Problemen des Atomstroms natürlich nichts geändert hatte. Ähnlich übrigens wie Laschet bei der Hochwasserkatastrophe.Machen wir es kurz: die CDU ist unwählbar.

Die SPD muss sich vorwerfen lassen, Teil der Regierung gewesen zu sein und die Pläne der CDU mit getragen zu haben. Besonders sauer stoßen in so einem Kontext Meldungen wie die über den Staatstrojaner (Behörden dürfen ohne Verdacht auf Straftat jedes Endgerät ausspionieren & müssen Sicherheitslücken, die sie dafür nutzen, nicht melden, also offen lassen) auf. Esken hatte das explizit ausgeschlossen. Und auch die SPD scheint der Lobby nicht abgeneigt zu sein, spricht sich ebenfalls weiterhin gegen ein zentrales und transparentes Lobbyregister aus.
Nebeneinkünfte – Quelle: abgeordnetenwatch.de (relevanter Wert: Median, da pP)
Der Kanzlerkandidat: Scholz glänzt bisher durch Merkeln. Er sitzt den Wahlkampf aus, erlaubt sich keine größeren Fehler, wirkt souverän, hält sich zurück oder nutzt seine Position als Finanzminister klug aus, um finanzielle Hilfen für Flutopfer zu verkünden. Dabei vergisst man schnell, dass er in Hamburg die Fortführung des Einsatzes von Brechmitteln beschloss, obwohl bekannt war, dass das lebensgefährlich sein kann. Zwei Menschen sind danach daran gestorben. Der G20 Gipfel wurde in Hamburg veranstaltet, obwohl klar war, dass das Areal nicht ausreichend zu sichern sein würde. Man hätte das auch außerhalb stattfinden lassen und die Verwüstung der Stadt verhindern können. Ebenfalls unglücklich ist die Rolle von Scholz bei CumEx und Wirecard. Bei ersterem gibt es Hinweise, dass er schon früh informiert war. Bei letzterem hätten sein Ministerium und die BaFin viel früher etwas bemerken müssen. Ähnlich wie Laschet sind das millionenschwere Skandale, die vor allem Steuergelder verschlungen haben. Scholz gibt auf Nachfrage Erinnerungslücken an. Wollen wir einen dementen Kanzler?

Dagegen wirken die “Skandale” der Grünen Baerbock fast schon lächerlich: Zugegeben, elegant ist es nicht, wenn einem plötzlich auffällt, dass der Lebenslauf etwas geschönt ist und ich eine Zahlung falsch deklariert habe. Aber das steht in keinem Verhältnis zu dem, was die anderen beiden Kandidaten sich so geleistet haben. Teils wurden sogar Vorwürfe konstruiert. In einem Fall hieß es plötzlich, dass Grünen Wähler am häufigsten SUV fahren würden. (Der Vorwurf: Rad predigen, aber SUV fahren. Da wurden zum Einen Kausalität und Korrelation bewusst verwechselt und anschließend noch ein heftiger methodologischer Fehler übersehen: Es wurden nur Leute gefragt, die sich ein Auto gekauft hatten oder das planten. Das macht die Stichprobe nicht representativ für die Allgemeinbevölkerung.) In einem anderen Fall soll Baerbock plagiiert haben. Das betreffende Werk war allerdings keine wissenschaftliche Arbeit, sondern ein Sachbuch. Da unterliegt das Zitieren ganz anderen Regeln, es ist also üblich, nicht alles detailliert zu belegen und durchaus möglich, Gedankengänge unzitiert zu übernehmen. Man könnte das etwas ungründlich nennen, aber auch wieder harmloser als sowas wie das Buch von Laschet. Das Aushängeschild der Partei ist der Umweltschutz, aber auch fiskalpolitisch gibt es gute Überlegungen zu Investitionen (gerade klug weil Negativzinsen) und zu Besteuerungskonzepten (siehe oben). Hier profiliert sich Habeck auch so gut, dass ich ihn eigentlich für den besseren Kanzlerkandidaten gehalten hätte.

Die Linke geht in diesem Wahlkampf ziemlich unter. Das ist kein Wunder, denn die Partei hat nicht nur ihre bekannten radikallinken Probleme, sie hat auch eine mit dem rechten Rand sympathisierende Gruppierung rund um Wagenknecht. Diese innere Zerrissenheit sorgt auch dafür, dass eigentlich löbliche Ziele in den Bereichen Klima, Verkehr, soziale Gerechtigkeit, Bildung, Digitalisierung und Finanzen (siehe erneut oben) nicht wirklich transportiert werden. Viele der Ziele der Grünen formuliert die Linke auch, teilweise sogar noch ambitionierter, bspw. beim Thema Erbschaftssteuer. Sie würde sich gut für eine Rot-Rot-Grüne Koalition eignen, aber dafür müsste die Linke sich vermutlich zur Nato bekennen und zumindest begrenzt Auslandseinsätze der Bundeswehr dulden. Bei dieser Wahl muss man sich allerdings überlegen, wen man letztendlich als Kanzler haben möchte. Und da muss sich dann jeder einzelne Fragen, ob er ideell (favorisierte Partei) oder pragmatisch (Partei des bevorzugten Kandidaten) abstimmen möchte.

Zu guter Letzt seien noch ein paar andere Parteien erwähnt: politisch interessant, aber beinahe ohne mediale Präsenz sind da die Piraten und Volt. Beides primär von jungen Menschen gegründete, pro-europäische und im linken Spektrum einzuordnende Parteien, die sich für Freiheit und Bürgerrechte einsetzen. Bei den Piraten liegt der Fokus vermehrt auf den digitalen Möglichkeiten, die Demokratie unterstützen können sowie dem Datenschutz. Volt fokussiert sich vor allem auf übernationale Bestreben und eine Stärkung Europas. Super unsozial wird es bei der FDP (“Wenn Sie sich keine Miete leisten können, dann erwerben Sie doch einfach Eigentum!”) oder der AfD. Die Partei kann auf Bundesebene leider nicht das bieten, was Sonneborn seit Jahren in der EU vollbringt, nämlich präzise Missstände ansprechen und Transparenz in absolut intransarente Prozesse bringen und dabei sogar noch geschichtlich bzw. politisch informieren.

Wenn du das hier liest, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass du unter 40 bist. Du gehörst damit zu einer demografisch schwachen Gruppe.

Umso wichtiger ist es, dass du wählen gehst. Und, dass du deine Lebensgewohnheiten überdenkst. Denn die autofahrende Konsumgesellschaft, die gerne in den Urlaub fliegt, die gerne isst, worauf sie eben so Lust hat und jedes Jahr ein neues Handy kauft, erwartet wahrscheinlich keine rosige Zukunft.

Update: Corona mich nicht voll!

Wie, der Scheiß ist immer noch nicht vorbei? Weswegen ist das so? Die Kurzversion: Deinetwegen. Die Langversion:

Zugegeben, am Anfang dieser Pandemie habe auch ich nicht mit diesem Ausmaß gerechnet. Das hatte unter Anderem damit zu tun, dass einige (nicht so freiheits- und demokratieliebende) Länder relativ schnell Herr der Lage geworden zu sein schienen. Es hatte auch damit zu tun, dass ich den Menschen zugetraut habe, sich an die im vorherigen Blogpost genannten Regeln zu halten. Mittlerweile wurden die sogar unter dem Akronym AHA so verpackt, dass man sie sich leichter merken kann. Zur Erinnerung, AHA bedeutet:
1. Abstand
2. Hygiene
3. Alltagsmaske

Mittlerweile gibt es Untersuchungen darüber, welche Maßnahmen hilfreich in der Eindämmung vom Virus sind. Nicht hilfreich sind da beispielsweise die von einem sachunverständigen bayrischen Ministerpräsidenten vorgeschlagenen Massentests. Abgesehen davon, dass Bayern es nichtmal schafft, die bisher Getesteten zeitnah (oder überhaupt) über ihre Ergebnisse zu informieren, müsste man so viele Menschen (zeitgleich) testen, dass das einfach unmöglich wäre. Eine weitere Maßnahme, die kaum einen Effekt zu haben scheint, ist die Ausgangsbeschränkung. Das liegt daran, dass das Problem nicht darin besteht, draußen zu sein. Dazu gleich mehr. Ebenso sinnlos ist das großflächige Besprühen öffentlicher Plätze mit Desinfektionsmittel, mit dem in Deutschland zum Glück nie begonnen wurde.
Das bringt uns zu einem umstrittenen Punkt: den Oberflächen. Schon zu Beginn der Pandemie hat Hendrik Streeck eine Studie durchgeführt um zu überprüfen, ob sich Corona über Oberflächen überträgt und ist zu dem Schluss gekommen, dass das nicht so ist. Seine Studie hatte leider methodologische Schwächen und wurde auch auf sehr unkonventionelle Art und Weise “veröffentlicht” (Streeck hat die Werbeagentur von Ex-Bild Chef Diekmann mit der PR für die Studie beauftragt). Das RKI meint dazu, dass eine Übertragung bei hoher Viruslast möglich ist. Das gilt auch für die eigenen Hände. Deshalb scheint Hygiene sinnvoll zu sein. Ebenso unklar ist die Wirkung von Masken. Die WHO hat das zwar mal untersuchen lassen, musste aber auch methodologische Schwächen einräumen. Möglicherweise sorgen Masken dafür, dass Menschen sich eher an Abstandsregeln halten, weil sie beim Anblick an die Allgegenwärtigkeit des Virus erinnert werden. Möglicherweise denken Menschen aber auch, dass Abstand durch die Masken nicht mehr so notwendig ist. Sicher ist, dass Alltagsmasken größere Tröpfchen (= potenziell hohe Viruslast) zurückhalten und Aerosole mehr verstreuen. Sie sind also wahrscheinlich auch sinnvoll.
Zu guter letzt kommen wir zu der Maßnahme, die mit Abstand (höhö) die größte Wirkung hat: der Abstand. Veranstaltungen mit vielen Gästen zu verbieten war effektiv. Den Schulunterricht nur noch über Internet per Video stattfinden zu lassen auch. Und auch das Verbot von Treffen größerer Gruppen gehörte dazu. Das will nur anscheinend keiner so richtig wahrhaben. Ich kann mich da auch nicht ausschließen. In den letzten 14 Tagen hatte ich Kontakt zu 7 Haushalten. Und da zählen die Kontakte auf der Arbeit noch nicht zu. Hätte ich mich also vor 14 Tagen angesteckt, wäre mein persönlicher R-Wert 7. Und hätten sich alle 7 Haushalte so verhalten wie ich, hätten wir potenziell 48 neuinfizierte Haushalte. In China könnte man alle diese Haushalte leicht per Handy ausmachen und in Quarantäne stecken: Problem gelöst! Die deutsche Corona App könnte sowas leider (oder zum Glück) nicht leisten, aber die wurde sowieso von zu wenigen Leuten installiert – auch wenn ihr Grundgedanke gut ist. Nur Abstand schützt wirklich. Gerade zu Weihnachten ist das eine für viele schmerzhafte Realität. Die meisten Menschen, mit denen ich bisher gesprochen habe, wollen sich über die Empfehlungen zur Kontaktbeschränkung hinwegsetzen. Mit Eltern, Großeltern, Geschwistern und Partnern kommt man sehr schnell auf sehr viele Haushalte. Leider sind Kontaktbeschränkungen nicht nur sehr sinnvoll, sie sind auch das einzige wirklich wirkungsvolle Mittel, um die Ausbreitung von Corona einzudämmen. Und leider müssen wir uns da alle an die eigene Nase fassen und uns noch weiter einschränken.

Die Landesregierung von NRW hat noch vor wenigen Tagen an einem Weihnachten mit gelockerten Regeln festgehalten. Mittlerweile ist der sachunkundige nordrhein-westfälische Ministerpräsident zurückgerudert und erwägt nun doch starke Einschränkungen. Diese könnten bei der heutigen Bund-Länder Konferenz beschlossen werden. Man könnte meinen, dass der Ministerpräsident schlecht beraten wurde. In seinem Beratergremium sitzt nur ein Virologe. Und das ist Streeck.

Eigentlich müssten wir alle hoffen, dass es härtere Kontaktbeschränkungen geben wird. Und eigentlich müssten wir uns alle (jetzt schon) an sie halten. Corona tötet in Deutschland im Moment täglich über 500 Menschen. Zum Vergleich: In eine Boeing 747 passen 440 Menschen. Das ist ein Flugzeugabsturz jeden Tag. Ich wünsche euch frohe Weihnachten!

Europawahl 2019

Ich hätte gerne einen hardcore recherchierten Beitrag zu dem Thema verfasst, aber offensichtlich waren andere Dinge wichtiger. Deswegen kommt jetzt in aller Kürze nur ein Bisschen Meinung:

Morgen ist Europawahl. Oder besser gesagt EU Wahl. Die Bürger der Mitgliedstaaten der Europäischen Union wählen ihre Volksvertreter, das Parlament. Das ist für die EU das, was der Bundestag für Deutschland ist. Im Gegensatz zur Bundestagswahl hat man bei der EU Wahl nur eine Stimme. Diese gibt man für die Liste einer Partei ab. Erhält eine Partei also fünf Sitze, landen dort die ersten fünf Politiker der Liste. Im EU Parlament finden sich dann alle gewählten Vertreter aus allen Ländern zu Fraktionen mit ähnlichen Interessen zusammen, ähnlich wie es im Bundestag die Parteien tun. Die Wahlbeteiligung ist leider oft sehr niedrig. Aber das bedeutet auch, dass deine Stimme verhältnismäßig gewichtig ist. Also geh’ wählen!
Nur wen? Da muss sich jeder selbst informieren. Ich werde hier nur von ein paar Möglichkeiten abraten:

CDU / CSU: Die “christlichen” Parteien, die sich absolut nicht christlich verhalten. Als besonderes Schmankerl möchte ich exemplarisch die Entwicklung des neuen Urheberrechts anführen. Dazu habe ich hier und hier schon mal etwas geschrieben. Besonders bedenklich ist die große Einflussname des Axel Springer Verlags in diesem Verfahren. Aber da kann man Voss keinen Vorwurf machen: Wer den gleichen Vornamen wie man selber trägt, der kann keine bösen Absichten haben.
SPD: Die “sozial””demokratische” Partei, die weder soziales noch demokratisches Handeln besonders zu auszuführen vermag. Exemplarisch ein aktuelles Beispiel von vor zwei Tagen: Olaf Scholz verhindert eine europäische Initiative, in der Unternehmen öffentlich machen sollen, in welchem Land sie Gewinn machen und wie viel Steuern sie darauf zahlen. Die SPD hat in ihrem Programm das Ziel formuliert, Transparenz zu vergrößern und Konzerne fair zu besteuern. Scholz macht hier das genaue Gegenteil. Und das hat in der Partei leider System. Wie viele Jahre will sich die SPD noch wohlklingende Ziele setzen, um sie anschließend im Interesse von irgendwelchen Gruppen undemokratisch über Bord zu werfen?
Piraten: Das mir am attraktivsten erscheinende Programm dieser Wahl haben die Piraten verfasst. Leider ist die Partei voll von äußerst persönlichkeitsauffälligen Menschen, denen ich ungerne die Vertretung meiner Interessen anvertrauen möchte. Zudem hat die Speerspitze des parlamentarischen Kampfes gegen die o. g. Urheberrechtsreform, Julia Reda, die Partei unlängst verlassen. Ihr Generalsekretär, der zuvor auf Listenplatz 2 stand und nun auf Platz 1 aufgerückt ist, hat sich nach einer Untersuchung des Parlamentsbeirats für Belästigung am Arbeitsplatz mehrfach der sexuellen Belästigung schuldig gemacht. Die Partei entschied sich jedoch gegen Sanktionen gegen ihn.
EU-Skeptiker: Es hat ja schon etwas Ironisches, Menschen in das Parlament zu wählen, die das Parlament gerne auflösen möchten. Quasi Arbeitsverweigerung mit Ansage. Eine Mehrheit werden sie im Parlament nicht bekommen, also sind das vielleicht auch alles Masochisten. Bei aller berechtigter Kritik an der EU wie bspw. mangelnder Transparenz der Prozesse oder Entscheidungen “mächtiger” Mitgliedstaaten zu Lasten kleinerer Mitgliedstaaten muss man doch festhalten, dass die EU seit langer Zeit den Frieden und die wirtschaftliche Entwicklung fördert. Sie ist eine Errungenschaft, die unsere Lebensqualität verbessert. Sie muss auf jeden Fall reformiert, aber auch keinen Fall abgeschafft werden.
Tier- & Umweltschutz: Alleine in Deutschland gibt es vier Parteien, die sich mehr oder weniger ausschließlich diesem Thema verschrieben haben. Ich halte das auch für wichtige Themen. Seine Wahlentscheidung zu sehr an ihnen fest zu machen, halte ich aber für bedenklich. Denn zum einen finde ich es wichtig, auch eine breitere Perspektive für eine Gesellschaft in ihrer Komplexität, für Recht und Ethik, für Wirtschaft und internationale Themen zu haben. Außerdem haben wir in Deutschland schon vergleichsweise gute Gesetze zum Schutz von Tier und Umwelt. Gerade was die Umwelt betrifft, ist der Klimaschaden, den Deutschlands anrichtet im Vergleich zu Ländern wie China, den USA oder Indien kaum existent. Ebenso kommt vergleichsweise wenig Müll in den Ozeanen aus Deutschland. Das heißt nicht, dass wir das nicht ändern sollten. Lediglich die Priorität dieser Themen ordne ich daher anderen unter.

Allen Neugierigen empfehle ich an dieser Stelle nochmal abgeordnetenwatch.de. Hier kann man sich von jedem Politiker das komplette Abstimmverhalten der letzten Legislaturperiode angucken. Dort kann man also sehen, ob sich Parteien an ihr Programm halten oder Unfug verzetteln. Und für alle unentschlossenen last minute Entscheider ist hier der Link zum Wahl-O-Mat.

Terminservice- und Versorgungsgesetz – Petition

Die 50000 Unterschriften, die nötig sind, damit der Bundestag sich mit dem Thema befassen muss, sind zwar bereits erreicht, jedoch dürfte eine möglichst große Anzahl an Unterschreibenden symbolischen Wert haben.
 

Jens Spahn hatte die Idee, dass erst eine externe Person mit einem psychisch kranken Menschen sprechen soll, die dann beurteilt, ob dieser überhaupt eine Behandlung braucht, bevor selbiger Mensch ein Gespräch mit einem Psychotherapeuten haben darf.
Zum Vergleich: Hast du eine körperliche Krankheit, gehst du zum Arzt (Fachperson für körperliche Krankheiten), der dann über die Behandlung entscheidet. Hast du eine psychische Krankheit, müsstest du bei der von Spahn vorgeschlagenen Neuregelung erst mal zu einem Beurteiler, dem dein Herz ausschütten und anschließend – wenn er es für nötig hält – zu einem Psychotherapeuten (Fachperson für psychische Krankheiten).
Bisher ist es eigentlich schon unnötig kompliziert: Du gehst zum Psychotherapeuten (Fachperson für psychische Krankheiten), der muss nach fünf Behandlungsstunden einen Antrag auf Therapie schreiben und den einem Gutachter (Fachperson für psychische Krankheiten) vorlegen, der dann entscheidet, ob die Therapie so stattfinden kann.

 
Wenn du also gegen eine noch komplizierte Neuregelung bist, die es psychisch Kranken noch schwerer macht, an einen Therapieplatz zu kommen, als ohnehin schon, dann unterschreibe doch die Petition. Geht auch ganz schnell.

Die Liebe zum Diesel

Alle großen Autokonzerne haben bei Tests zur Bestimmung der Abgaswerte – also dem Wert, der angibt, wie sehr ihre Autos die Luft vergiften – vorsätzlich betrogen. Dadurch konnten sie Kosten einsparen und sich um Milliarden Euro bereichern. Jetzt tritt ihnen der Rechtsstaat mit seiner vollen Härte entgegen. Die Autokäufer haben zwei Möglichkeiten. Entweder, sie lassen die Software in ihrem Wagen kostenlos updaten. Das hat dann zur Folge, dass der Wagen deutlich mehr Sprit verbraucht, ihr Auto für sie also teurer wird. Oder, sie verkaufen ihren alten Wagen zurück an den Konzern und erhalten eine Geldsumme, die irgendwo zwischen zwei und fünf Prozent des Wertes eines Neuwagens liegt (die Summe wird übrigens zu 80% vom Bund finanziert)…aber nur, wenn sie auch gleichzeitig einen Neuwagen kaufen. Die Logik dahinter ist folgende:
“Sie wurden von ihrem Autohersteller angelogen und haben dadurch eine Kaufentscheidung getroffen, die sie sonst vielleicht nicht getroffen hätten? Kein Problem, kaufen Sie doch bei dem gleichen Hersteller noch ein Auto mit einem kleinen Rabatt. Ihr altes Auto wird dann einfach in einem anderen Land nochmal verkauft. So haben Sie den Wagen, den sie eigentlich haben wollten und der Autobauer kann gleich doppelt so viele Autos verkaufen. Faire Kompensation, oder?”. Eine Belohnung für Lug und Betrug als Leistung für den Bürger verkaufen…an Dreistigkeit kaum zu überbieten.
Dass so etwas überhaupt möglich ist, zeigt nur ein weiteres Mal, wie groß der Einfluss der Autolobby in Deutschland ist. Und das ist ein Problem, denn er ist nicht demokratisch legitimiert. Ohne diese Autolobby wäre vielleicht auch schon das Netz des öffentlichen Verkehrs in einem deutlich besseren Zustand und wir bräuchten gar nicht mehr so viele Autos. Denn die sind neben ihren Anschaffungskosten auch im Unterhalt sehr teuer. Viele versteckte Kosten lauern in Wartung, Verschleiß, Treibstoff und Versicherung. So lange man nicht mit mehreren Menschen in einem Auto sitzt, ist das eigentlich immer teurer als öffentliche Verkehrsmittel. Leider sind die Dinger auch international wichtig. Guckt man zum Beispiel auf die Türkei, wird einem schnell klar, dass Erdogan Deutschland neben ziemlich vielen Flüchtlingen auch ziemlich viele Autos abnimmt. Daher sind die Beziehungen zu der Türkei auch so wichtig. Zuletzt gab es dann doch mal kritische Überlegungen diesbezüglich. Es ging um Dieselfahrverbote. In manchen Städten. Auf manchen Straßen. Zu manchen Uhrzeiten. Als wären diese Einschränkungen nicht schon aberwitzig genug, haben sie eigentlich nur zur Folge, dass der Verkehr in den Städten chaotischer wird, weil die Dieselfahrer Umwege fahren müssen. Die dann auch länger sind. Wenn sie überhaupt von der Regelung betroffen sind, weil es auch da nochmal Ausnahmen gab. Man merkt, der Kampf gegen Autos scheint nicht zu gewinnen zu sein.
Um das jetzt mal etwas überspitzt zu formulieren: Wir haben da einen Staat, der dabei zusieht, wie jährlich eine vermutlich sehr große Anzahl Menschen an den Folgen der verschmutzten Luft stirbt. Die Autoindustrie, die die Geräte für diese Verschmutzung herstellt, bereichert sich durch den Betrug an allen Autokäufern. Und als Ergebnis wird sie damit belohnt, noch mehr Autos verkaufen zu dürfen. Natürlich würde der Mentalitätswandel weg vom Auto wirtschaftliche Folgen mit sich bringen. Aber er würde auch neue Möglichkeiten eröffnen. Vor allem würde er uns weg von einer umweltpolitischen und moralischen Bankrotterklärung hin zu einem gesünderen und effektiveren Leben leiten.

Hambacher Forst

Der Hambacher Forst ist ein alter Wald. Den will RWE abholzen, weil darunter wertvolle Kohle liegt. Das geht im Moment nicht, weil Aktivist*innen ihn besetzen. Es wird immer weiter zum Widerstand gegen die Rodung des Hambacher Forsts aufgerufen. Polizeiblockaden werden umgangen. Baumhäuser werden als dauerhafte Aufenthaltsorte eingerichtet. Dabei ist die rechtliche Lage ziemlich eindeutig: Die Gemeinden der Region haben das Gebiet vor vielen Jahren verkauft. Jetzt gehört es deswegen RWE. Die Rodung ist durch die Bezirksregierung genehmigt worden. Und das Ganze wurde politisch von der ehemaligen rot-grünen Landesregierung beschlossen und wird von der gegenwärtigen schwarz-gelben Landesregierung fortwährend getragen. Man kann sich hier über die Politik ärgern, die das verursacht hat, aber die Entscheidung dieser ist demokratisch legitimiert. Die Besetzung des Hambacher Forsts ist es nicht. Und auch, wenn Naturschutz an sich ein löbliches Vorhaben sein mag: Er verstößt in diesem Fall gegen geltendes Recht.
Auf einem anderen Blatt steht jedoch, wie sinnvoll es ist, diese Räumung gerade jetzt durchzuführen. Die offizielle Begründung lautet Brandschutz: Die Aktivist*innen seien in den Baumhäusern nicht sicher. Zufälligerweise beginnt im Oktober die Rodungssaison. Wahrscheinlich wird die vor nicht allzu langer Zeit eingerichtete Kohlekommission bald den Ausstieg aus der Kohlestromversorgung beschließen. RWE steht also unter Zeitdruck und will in der verbleibenden Zeit noch so viel Fläche wie möglich erschließen. Dabei darf RWE nur so viel Fläche erschließen, wie sie in drei Jahren auch abbaggern (z. B. mit dem Bagger 288) können. Die Fläche, die sie jetzt roden wollen, geht darüber deutlich hinaus. Und: Der Abbau erfolgt in horizontalen Schichten. Gerade trägt RWE nur die oberste Schicht ab, um noch lange danach Zugang zu den unteren Schichten zu haben. Da wird sich dann keiner mehr beschweren, denn der Wald ist ja schon weg. Würde man die früher bearbeiten, bräuchte man die Fläche des übrigen Hambacher Forstes eventuell gar nicht mehr.
Dass hier jetzt also zügig der Wald freigeräumt und gerodet werden soll, bevor gerichtliche Entscheidungen zu deren Rechtmäßigkeit und politische Entscheidungen über deren Zukunft vorliegen, zeigt traurigerweise, wie es um die Landesregierung bestellt ist. Protest rechtfertigt das allemal, mehr aber auch nicht.

Die Polizei, die eben dieses Recht durchsetzt, kriegt da leider so einiges an fehlgerichteter Wut ab. Zum Glück gibt es auch schöne Szenen wie diese hier:

Update: Zensur im Gewand vom Urheberschutz

Jaja, das EU Parlament stimmte soeben für ein Rechtsstaatsverfahren gegen Orbans Regierung, aber damit das nicht untergeht: Zensur kommt!
Wie es dazu kam und warum das schlecht ist, lest ihr in meinem Beitrag dazu oder auf netzpolitik.org.
Auf Abgeordnetenwatch könnte ihr euch angucken, wie der/die von euch gewählte Politiker*in abgestimmt hat und euch überlegen, ob ihr ihn/sie nochmal wählen wollt.
Günther Oettinger und Axel Voss haben sich damit erfolgreich für den Axel Springer Verlag und gegen die Freiheit eingesetzt, herzlichen Glückwunsch.

Psychotherapeutische Unterversorgung

In Deutschland zahlen die gesetzlichen Krankenkassen die ambulante Psychotherapie. Das sind im Fall einer “normalen” Langzeitpsychotherapie fünf probatorische Sitzungen, um sich kennenzulernen und 60 Sitzungen à 50 Minuten. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) der jeweiligen Region vergibt hierfür die Plätze für ambulante Psychotherapeuten (und Ärzte). Die Abrechnung erfolgt ebenfalls zwischen den Psychotherapeuten und der KV. Die wiederum hat mit den Kassen vorher festgelegt, wie viel Geld ihr zur Verfügung steht. Das bemisst sich allerdings nicht nach sinnvollen Faktoren wie Demografie, Sterblichkeitsrate, Zahl der tatsächlich Erkrankten oder der Therapeutenzahlentwicklung, sondern anhand der Veränderung der sogenannten Grundlohnsumme, die eigentlich nichts über den Bedarf an psychotherapeutischen Kassensitzen aussagt. Gäbe es mehr Kassensitze für Psychotherapeuten, müsste die KV also mehr zahlen. Deswegen hat sie kein Interesse daran, neue Kassensitze zu kreieren. Und das, obwohl das dringend notwendig wäre. Gerade in NRW ist die Versorgung schlecht. Das ist auch dank eines Tricks möglich: Großstädte in NRW werden nicht als solche, sondern als “Sonderregionen” berechnet, für die andere Vorgaben gelten. Zur Folge hat das, dass Patienten im Durchschnitt sechs Monate auf einen freien Platz für ambulante Psychotherapie warten müssen. Vor dem Hintergrund, dass die Prognose für eine Genesung im Laufe der (unbehandelten Zeit) immer schlechter wird, ist das besonders dramatisch.
Einige Patienten gehen dann zu einem Psychiater, also einem Mediziner, der den Facharzttitel für Psychiatrie erworben hat. Der hat nicht ein Mal die Woche 50 Minuten Zeit. Ich habe mal gelesen, dass ein Psychotherapeut im Jahr ungefähr 50 Patienten sieht. Beim Psychiater sind es 700. Man kann sich ausmalen, wie so ein Kontakt dann abläuft. Nur Medikamente zu nehmen ist (meistens) keine leitlinienkonforme Behandlung einer psychischen Erkrankung.
Es gibt das Prinzip der Kostenerstattung: Demnach muss eine Krankenkasse einem Patienten, der nachweisen kann, dass er bei einigen Therapeuten angerufen und nirgendwo innerhalb weniger Wochen einen Platz zugesagt bekommen hat, eine ambulante Psychotherapie auch bei einem Therapeuten zahlen, der keinen Kassensitz hat (also auf privater Basis behandelt). Die meisten Menschen kennen diese Regel gar nicht. Von psychisch Kranken zu erwarten, dass sie sich darum alleine kümmern können, grenzt überdies an Zynismus.
Dabei müsste es ein größeres Interesse an der Verbesserung der ambulanten Versorgung geben. Die unbehandelten psychischen Erkrankungen verschlimmern sich in der Regel. Irgendwann landen die Patienten dann in der Psychiatrie. Im vollstationären Bereich muss hier 24/7 sowohl die Verpflegung gegeben und ein Behandlungsteam anwesend sein (und bezahlt werden). Arbeitgeber müssen Lohn weiter zahlen, obwohl die Krankheitswochen pro Jahr bei psychischen Krankheiten oft über fünf Wochen betragen. Das Risiko auf Chronifizierung steigt, irgendwann betrifft es dann auch die Rentenkassen. Auch das Risiko auf Suizid steigt.
Die Lösung müsste eine politische sein. Wenn man sich jedoch anguckt, wie schwer sich unsere Regierung mit der Verbesserung der Pflege tut, möchte man sich gar nicht erst vorstellen, wie schwer sie sich mit der psychotherapeutischen Versorgung tun wird.

Zensur im Gewand vom Urheberschutz

Worum geht es?
In der EU soll ein Gesetz verabschiedet werden. Hintergrund: Google, Facebook, Twitter und andere besorgen sich Nachrichten, Texte und andere urheberrechtlich geschützte Werke, um sie – meistens in kleinen Teilen – auf ihren Seiten darzustellen. Konkret könnte es hier zum Beispiel um einen Zeitungsartikel gehen, dessen Überschrift, Titelbild und erste Textzeilen in einer Vorschau auf einer der genannten Seiten auftauchen. Dadurch wird das Urheberrecht verletzt und die Unternehmen können sich so an den Leistungen anderer bereichern, ohne dafür zu zahlen. Das soll sich durch das Gesetz ändern.

Was spricht dafür?
Es darf wirklich nicht sein, dass Plattformanbieter sich durch das geistige Eigentum anderer bereichern, ohne dafür Abgaben zu zahlen. Die Bereicherung erfolgt vor allem durch Werbung. Auf dem Gebiet der Onlinewerbung beherrschen in der EU zwei große Unternehmen – man könnte von einem Duopol sprechen – den Markt: Google und Facebook. Durch ihre Stellung gibt es für Konkurrenz wenig bis keine Chance und die Prognose deutet eher auf einen Wachstum des Anteils an der Gesamtonlinewerbung hin. Mit der Werbedominanz würden so nach und nach Verlage verdrängt werden, was einer Informationsdominanz gleichkäme. Das war vor 30 Jahren noch kein Problem, denn da war der Leser ja an die jeweilige Zeitung gebunden, um seine Informationen zu beziehen und die hat dann die Urheber bezahlt.

Was spricht dagegen?
Technisch müsste das Vorhaben durch einen Upload Filter umgesetzt werden. Das würde bedeuten, dass alle Plattformen eine Software etablieren müssten, die sämtliche Dinge, die hochgeladen werden, mit einer Datenbank, in der alle durch das Urheberrecht geschützten Materialien erfasst sind, abgleichen müsste. Diese Software würde dann entscheiden, ob etwas gegen das Urheberrecht verstößt und somit blockiert werden müsste. Das ist technisch schwer bis gar nicht umsetzbar, schon gar nicht für kleine oder mittelgroße Plattformen. Auch für große Plattformen, wie bspw. Wikipedia (die haben zig tausend Uploads jeden Tag), könnte das das Aus bedeuten.
Youtube nutzt hierfür die sogenannte ContentID. Dieses System ist extrem schlecht, denn es meldet viel zu viele “False Positives”, sperrt also oft Inhalte, die gar nicht gegen das Urheberrecht verstoßen. Wenn man solche Systeme jetzt noch etwas genauer betrachtet, liefert das vorgeschlagene Gesetz in der Essenz die Basis für eine Zensur des gesamten Internets. Es wird eine Infrastruktur etabliert, die quasi den gesamten Netzverkehr überwacht und einzelne Inhalte blockieren kann. So etwas gibt es bisher in der Form zum Beispiel in China; dort sperrt der Staat einfach alles, was ihm nicht passt. Links, Memes, Parodien und Propgrammierportale hätten ein Problem. Das Internet, wie wir es kennen, könnte mitsamt seiner Meinungsfreiheit vor dem Ende stehen.

Was wäre besser?
Besser wäre bspw. eine Regelung zu finden, bei der das Allgemeinwohl und nicht das Wohl großer Verlage im Vordergrund steht. Zeitungen trifft neben der Digitalisierung, bei der sie sich sehr schwer tun, vor allem der Wegfall der Werbeeinnahmen. Die gehen an die Konzerne, die die meisten Daten über uns haben und somit die besten Profile über uns erstellen können. Wenn man diese Werbung reglementieren würde, würden sich die hierdurch entstehenden Einnahmen vermutlich wieder anders verteilen. Außerdem sollte man tunlichst davon absehen, selbst kleinste Linkschnipsel als geistiges Eigentum zu betrachten;

Fun Facts
Die Idee von Upload Filtern war auch Thema bei den Koalitionsverhandlungen in Deutschland. CDU und SPD haben sich hier explizit darauf geeinigt, eine solche Technologie auf keinen Fall zum Einsatz kommen zu lassen. Das scheint Axel Voss (CDU) aber egal zu sein. Er fordert trotzdem das Gesetz, das eben diese einführen soll.
Der Axel Springer Verlag lobbyiert richtig hart für die Einführung. Die geben sogar zu, dass es ihnen vor allem darum geht, unabhängige und alternative Nachrichtenangebote aus dem Weg zu räumen.
Der erste Entwurf von Voss wurde letzte Woche im EU Parlament abgelehnt, nachdem er eine knappe Mehrheit im EU Rechtsausschuss erhielt. Er soll nun überarbeitet werden. Bleibt also wachsam, kontaktiert eure politischen Vertreter und merkt euch das Abstimmverhalten der Parteien für die nächste Wahl.

Weitere Links
– Sasha Lobo zur Entwicklung des “Axel Springer Gesetz”
– Axel Voss (CDU) und Julia Reda (Piraten) schreiben hier ihre Argumentation nieder. Das Ziel von beiden ist löblich. Voss bleibt in seiner Argumentation jedoch sehr vage, während Reda konkrete Beispiele und wissenschaftliche Quellen für ihren Standpunkt bemüht.
– Save Your Internet Kampagne