Europawahl 2024

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Alle 5 Jahre wählen wir das EU-Parlament und am 09.06.24 bekommt jeder von uns die Möglichkeit, die potenziell mächtigste Handlung seines Daseins auszuüben: zu wählen. Nachdem die Wahlbeteiligung in Deutschland 2014 nur bei 48% lag, stieg sie 2019 auf 61% und lag damit deutlich über dem europaweiten Durchschnitt von 50%. Diese Zahlen sind sehr niedrig1. Das könnte zum einen an historisch bedingter Skepsis gegenüber größeren Machtinstitutionen in manchen Ländern und zum anderen an dem mangelnden Gefühl von Beeinflussbarkeit bei vielen Menschen liegen. Nichtsdestotrotz bestimmen die Menschen mit ihrer Stimme die Zusammensetzung des drittgrößten Parlaments der Welt2. Weil die Sitzverteilung im Parlament sich nach der Bevölkerung der Mitgliedsstaaten richtet, könnte man sagen, dass Deutschland eine besondere Verantwortung hat, seine Vertreter gewissenhaft auszuwählen. Das EU-Parlament darf zwar keine Gesetze vorschlagen, es entscheidet aber über ihre Einführung. Die Mitgliedsstaaten müssen diese Gesetze umsetzen. Man kann also eigentlich gar nicht überbetonen, wie wichtig (und mächtig) die EU ist. Und deswegen ist auch deine Stimme wichtig und mächtig. Bitte geh wählen!

Falls du dir, wie ich auch, im Alltag wenig Zeit nimmst, um dich mit den Geschehnissen auf EU-Ebene zu befassen, empfehle ich erst mal vorneweg den YouTube Kanal von Martin Sonneborn (MdEP, Die Partei, fraktionslos). Durch niemanden habe ich so viel über die EU gelernt wie durch ihn. Falls du dir unsicher bist, welche Partei am ehesten deine Interessen vertritt, lege ich dir wie bei jeder Wahl den Wahl-O-Mat ans Herzen. Von da aus kann man sich auch bis zur Unendlichkeit weiter über die einzelnen Thesen, die einem besonders wichtig sind, informieren. Zu ein paar ausgewählten3 Thesen werde ich hier kurz meine Gedanken niederschreiben und abschließen damit, was das für meine Wahlentscheidung bedeutet.

1 EU soll eigene Steuern erheben
Pro: Die EU muss sich finanzieren. Im Moment geschieht das durch Abgaben der Länder. Durch Steuern wäre es möglich, bestimmte Bereiche wie zum Beispiel Großunternehmen, exzessiven Wohlstand oder Klimaschädlichkeit zu besteuern, um soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz zu fördern. (Vertreter: Grüne, Linke, Volt)
Con: EU Steuern würden die EU noch weniger populär machen. Außerdem besteht bereits die Möglichkeit, Länder zu Investitionen zu verpflichten, die diese dann aus Steuereinnahmen finanzieren können.

2 Verbrennungsmotor soll beibehalten werden
Pro: Deutschland ist Technologieführer. Viel Wirtschaftskraft hängt am Verbrennungsmotor. Man könne Kraftstoffe umweltfreundlich machen, z. B. durch Synthese4. (Vertreter: CDU, FDP, AfD)
Con: Es ist nicht möglich, den Verbrennermotor klimafreundlich zu erhalten. Die E-Mobilität wird den Verbrenner verdrängen müssen, um das Klima und die Luftqualität zu schützen. Das Verbot neuer Verbrenner ab 20355 sorgt für Planungssicherheit bei Unternehmen und kann so Investitionen fördern.

3 EU soll Seenotrettung aufbauen
Pro: Es geht darum, Menschenleben zu retten.
Con: Je mehr Menschen man retten würde, desto mehr würden sich auf den Weg machen6. Seenotretter seien kriminelle Schleuser. (Vertreter: CDU, AfD)
Die Piraten bekleiden hier eine kleine Sonderstellung. Sie sind dagegen, weil Seenotrettung Völkerrecht sei und es somit keiner gesonderten Behörde bedürfe.

4 Ukraine soll EU-Mitglied werden
Ich müsste hier jetzt diesen ganzen Konflikt und seine Bedeutung zusammenfassen. Prinzipiell geht es um den Schutz des Landes und der EU vor der Aggression Russlands. Der Beitritt wird deswegen von den großen Parteien begrüßt. AfD und Linke7 argumentieren, dass die Ukraine weit davon entfernt ist, die Bedingungen für einen Beitritt zu erfüllen. Ironisch daran ist, dass auch alle anderen Parteien fordern, dass diese Bedingungen erfüllt sein müssen. Daher wird ihre Zustimmung von Kritikern als Symbolpolitik bewertet. Fun Fact: Die einzige Partei, die die Sanktionen gegen Russland lockern will, ist die AfD.

9 Photovoltaik-Pflicht bei Neubauten
Pro: Klimaschutz.
Con: Es würde für noch höhere Kosten beim Bau von neuen Gebäuden sorgen. In manchen Lagen ist Photovoltaik gar nicht sinnvoll. Es wäre besser, Anreize zu schaffen, als eine Pflicht einzuführen. (Vertreter: CDU, SPD, FDP, AfD)

10 Entscheidungen sollen mit Mehrheiten statt Einstimmigkeit getroffen werden
Pro: Zu oft haben einzelne Länder wichtige Entscheidungen und Fortschritte blockiert und die EU so handlungsunfähig gemacht. Als populärstes Beispiel dürfte hier Ungarns Veto-Verhalten in Erinnerung sein8.
Con: Mehrheitsentscheidungen könnten den Interessen einzelner Mitglieder widersprechen9. (Vertreter: Linke, AfD)

12 Europol soll weitere Befugnisse erhalten
Pro: Die Zusammenarbeit verschiedener Länder in der Verfolgung Krimineller sei defizitär. Durch eine Stärkung von Europol könnten nationale Behörden entlastet werden.
Con: Die justizielle und politische Kontrolle über Europol sei defizitär. Einer derartig strukturierten Behörde mehr Befugnisse zu geben wäre gefährlich. Die Zusammenarbeit der Länder sei ausreichend. (Vertreter: Linke, AfD, Partei, Piraten)

13 Länderübergreifender Rundfunk soll gestärkt werden
Pro: Das Modell von arte funktioniert gut. Gemeinsame Medien würden gesellschatflichen Zusammenhalt und gegenseitige Verständigung fördern.
Con: Bei staatlich finanziertem Rundfunk bestehe die Gefahr des Missbrauchs. Daher müsse die Finanzierung staatsfern erfolgen. (Vertreter: CDU, SPD, FDP, AfD)

15 Das Parlament soll nicht10 verpflichtend paritätisch besetzt werden
Pro: Das Grundgesetzt schützt die freie Entscheidung der Parteien, wen sie zur Wahl aufstellen möchten. Eine gleiche Verteilung von Männern und Frauen wäre wünschenswert11, sollte aber durch gesellschaftliche Veränderung und nicht durch Zwang erfolgen, da das der Gleichberechtigung widerspreche12.
Con: Damit Frauen mehr Einflüsse auf politische Prozesse haben, müssen sie sichtbar werden und Mitspracherecht haben. Über verbindliche Quoten lässt sich das realisieren. Das Parlament sollte die Verteilung in der Bevölkerung wiederspiegeln. (Vertreter: SPD, Grüne, Linke, Volt)

22 Der Zoll auf E-Autos aus China soll erhöht werden
Pro: Die Autos können nur so billig angeboten werden, weil China Menschenrechte verletzt, Menschen ausbeutet und die Produktion massiv staatlich subventioniert. Höhere Zölle würden ein Ablehnen dieser Praktiken ausdrücken und gleichzeitig anderen Herstellern zugute kommen. Die staatliche Unterstützung ist ein unfairer Wettbewerbsvorteil und müsse gestoppt werden.
Con: Der Freihandel sei eine wichtige Grundlage unserer Wirtschaft. Es wäre besser, in Technologie und Forschung zu investieren, um den Wettbewerb wiederherzustellen. Außerdem würden sich mit höheren Zöllen nur noch Besserverdiener E-Autos leisten können. (Vertreter: Grüne, FDP, Linke, AfD)

26 Gentechnik soll erlaubt werden
Bei diesem Punkt sind sich eigentlich alle Parteien mehr oder weniger einig, obwohl sie sich mit vergleichbaren Argumenten sowohl dafür als auch dagegen aussprechen. Die einen betonen mehr die Möglichkeiten (SPD, FDP, Volt), die anderen weisen auf die noch mangelhaften rechtlichen Rahmenbedingungen hin, sehen aber Chancen in der Forschung. Und natürlich weist eine Partei (Linke) noch darauf hin, dass durch Patente einzelne Konzerne zu übermächtig werden könnten.

34 Der Präsident / die Präsidentin soll direkt gewählt werden
Man muss sich gut überlegen, für wie sinnvoll man direkte Demokratie generell hält. CDU, SPD, Grüne und FDP wünschen hier keine Veränderung. Nur die CDU spricht sich gegen ein Spitzenkandidatenprinzip aus. Kein Wunder, denn nach diesem Prinzip wäre Ursula von der Leyen nie gewählt worden13. Die Kritiker der indirekten Wahl bezeichnen das nicht ganz zu Unrecht als “Hinterzimmergemauschel”, einem im Prinzip undemokratischen Prozess. Allerdings sind Demokratien anfällig für Manipulation. Ohne russische Unterstützung wäre Donald Trump vermutlich nie gewählt worden.

Die Partei, für die du dich entscheidest, wird sich sehr wahrscheinlich einer der 7 Fraktionen im EU-Parlament anschließen14. Das sind:
Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) – CDU
Die Grünen/Europäische Freie Allianz (G/EFA) – Grüne, Piraten, Volt
Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D) – SPD
Identität und Demokratie (ID) – AfD
Renew Europe (RE) – FDP
Die Linke im Europäischen Parlament (GUE/NGL) – Linke
Europäische Konservative und Reformer (EKR)
Wenn du dich dafür interessierst, empfehle ich eine weitere Recherche über deren sonstige Mitglieder und Ziele. Keine Partei wird ihr Programm innerhalb der Fraktionen vollständig umsetzen können.

Ich werde mich am 09.06.24 bei hoffentlich gutem Wetter mit einem Kaltgetränk zum Wahllokal begeben. Wenn du jetzt schon weißt, dass du verhindert sein wirst, beantrage Briefwahl! Das ist unkompliziert und kostenlos. Ich wiederhole mich, aber: Bitte geh wählen!

Subjektivitäts-Disclaimer: Ich habe bei den Vertretern nur die Parteien berücksichtigt, die eine gewisse Größe haben, mir wählbar erscheinen oder die ich schon mal gewählt habe.

  1. Zum Vergleich: bei den letzten beiden Bundestagswahlen lag die Wahlbeteiligung bei 76%. ↩︎
  2. (nach China und Deutschland, lol) ↩︎
  3. Ich habe Thesen ausgewählt, die mir wichtig erschienen. Entweder, weil ich selbst hin und hergerissen bin, oder, weil ich es wichtig fand dazustellen, welche Partei wie zu ihr steht. Also auch hier ein Subjektivitäts-Disclaimer. ↩︎
  4. Ich bin kein Fachmann auf dem Gebiet, aber hierzu fehlen mir gesicherte Erkenntnisse. Nach meinem Wissensstand ist das nicht realistisch. ↩︎
  5. Das heißt nicht Verbot aller Verbrenner. Wer bis dahin einen gekauft hat, darf ihn natürlich weiter nutzen. Nur werden dann wahrscheinlich irgendwann die Tankstellen knapp. ↩︎
  6. Also quasi: “Lasst ein paar sterben zur Abschreckung!” ↩︎
  7. Die alten Russlandfreunde. ↩︎
  8. Das führen die Grünen sogar explizit in ihrer Begründung beim Wahl-O-Mat an. ↩︎
  9. No shit, Sherlock. ↩︎
  10. Die Überschrift ist etwas verwirrend wegen der Verneinung, aber ich wollte die Aussage der ursprünglichen Wahl-O-Mat These erhalten. ↩︎
  11. Das sehen nicht alle Vertreter dieser Position so. ↩︎
  12. Hier könnte man noch eine lange Diskussion darüber eröffnen, warum Männer überrepräsentiert sind und was der beste Weg ist, das zu ändern. Ähnlich wie bei Punkt 4 würde das aber den Rahmen sprengen. ↩︎
  13. Das Parlament hätte sich eigentlich für Manfred Weber oder Frans Timmermans entscheiden müssen. Da aber keine Einigung erzielt werden konnte, einigte man sich in nicht-öffentlichen Absprachen auf von der Leyen. ↩︎
  14. Martin Sonneborn von Die Partei ist einer von 4 fraktionslosen deutschen Politikern. ↩︎

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